Prozeßtheologie

Prozeßtheologie
   heißt eine Gestalt nordamerikanischer Theologie, die sich auf naturphilosophische Grundsätze von A. N. Whitehead († 1947) stützt u. von dessen Schüler Ch. Hartshorne entwickelt wurde. Alle Aktualität wird hier als Prozeß verstanden; die ”natürliche Wirklichkeit“ besteht nicht aus Substanzen, sondern aus Ereignissen. Der Prozeß kann ein Übergang von einer Wirklichkeit zu einer andern oder ein Zusammenwachsen u. Konkretwerden innerhalb einer einzelnen Wirklichkeit sein. Alle Aktualitäten sind Erlebnis- u. Genußgeschehen, nur gelangen nicht alle zum Bewußtsein. Jedes Erlebnisgeschehen bedeutet eine Vielfalt an Beziehungen; in größerer Abhängigkeit des einen vom andern ist eine größere Vollkommenheit zu erblicken als in Unabhängigkeit. Die Erlebnisoder Genußprozesse bestehen auch aus Verflechtungen von Vergangenheit, Gegenwart u. Zukunft. Möglichkeiten, die bisher in der Welt noch nicht verwirklicht wurden (also ”Neues“ bedeuten), werden auf Gott zurückgeführt, denn in Gott besteht eine Urschau der reinen Möglichkeiten, die nach Aktualisierung drängen. Da jedes Erlebnisgeschehen einmal neu war, ist Gott der ”Schöpfer jeder zeitlichen aktualen Entität“, u. zwar ist das Gott in seiner ersten Natur, der ”Urnatur“. Die zweite Natur Gottes, die ”Folge- oder Handlungsnatur“ besagt: Gott wird von allem betroffen, was in Aktualitäten verwirklicht wird; er ist Liebender, Verstehender u. Mit-Leidender. In seiner dritten Natur, der ”hyperbolischen Natur“, leitet Gott die von ihm aufgenommene, bewahrte u. vervollkommnete Aktualität wieder in die Welt zurück. In diesem Prozeß verwirklicht er sein Reich. Die P. versucht den Nachweis, daß diese Sicht sowohl alle wesentlichen Elemente der alten Gotteslehre (einschließlich der Trinitätstheologie) in sich enthält als auch dem Werdeprozeß aller Wirklichkeit gerecht wird. Voraussetzung dafür sei lediglich, nicht von einem Sein auszugehen, an dem das Werden ein (bestimmtes) Element ist, sondern vom Werden, an dem das ”bloße Sein“ ein Element sei, so daß alles Unwandelbare ein Element am Wandelbaren sei. So könne Gott zugleich in seinem abstrakten Wesen gedacht werden, das unveränderlich u. absolut ist, u. in seiner konkreten Aktualität, die sich immerfort verändert, abhängig, auf die Welt bezogen, ”responsiv“, d. h. mitfühlend, mitgenießend u. mitleidend ist. Mit diesem Konzept stellt die P. ernstzunehmende Anfragen vor allem an den klassischen Katalog der Eigenschaften Gottes , aber auch an die Moraltheologie (da es ihr um schöpferische Entwicklung u. freie Selbstverwirklichung des Menschen geht). Die Abkehr der Gotteslehre vom traditionellen Theismus soll nach der P. durch konzentrierte Hinwendung zum ”galiläischen Ursprung des Christentums“ erfolgen, der auf ”jenen zarten Elementen in der Welt“ beruht, ”die langsam u. still durch Liebe wirken“. – In den USA entstanden differenzierte Schulen der P. (D. R. Griffin, J. B. Cobb, M. H. Suchocki auf der einen, B. Loomer u. a. auf der anderen Seite). Harte Kritik äußert jene ev. Sicht, die aufgrund der Rechtfertigungsthematik von einem entscheidenden qualitativen Abstand zwischen Gott u. Welt ausgeht. Auf kath. Seite begegnet die P. wegen ihres ”evolutionistischen Optimismus“ ähnlichen Bedenken wie seinerzeit P. Teilhard de Chardin († 1955). Jedenfalls stellt die P. ernsthaft die Frage, ob die alten, logisch erschlossenen Eigenschaften Gottes nicht ebenso anthropomorph (Anthropomorphismus) sind wie diejenigen, die im Anschluß an die Offenbarungszeugnisse nun als ”menschenfreundliche“ Eigenschaften thematisiert werden.

Neues Theologisches Wörterbuch. . 2012.

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